Endlich Rente! Klar, das ist toll, wenn plötzlich der Druck weg ist. Nicht mehr morgens raus müssen. Nicht mehr den ganzen Tag über Leistung bringen müssen. Keine Termine, kein Gehetze.
Aber mit dem Job sind auch andere Dinge weg: Die tägliche Kommunikation mit Kolleg/innen, Mitarbeitenden, Kunden. Ein klar strukturiertes Tages- und Wochen-programm. Immer etwas zu tun zu haben. Das Gefühl zu haben, etwas bewirken zu können und gebraucht zu werden. Nicht zuletzt auch Geld zu verdienen, mit dem sich ein gewohnter Lebensstandard bezahlen lässt.
Auch das alles ist mit Beginn der Rente dann oft plötzlich weg. Und fehlt!
Was ist jetzt anders?
Im Berufsleben hattest du dich vielleicht gut eingerichtet. So wie ein Hafenrundfahrts-Kapitän. Der hat seine Rolle und seine Aufgaben, seinen Fahrplan und seine Route, und die spult er wieder und wieder ab. Er kann dir wahrscheinlich heute schon sagen, an welcher Haltestelle er in 6 Monaten am Mittwoch morgen um 10:30 Uhr sein wird. Und mit ziemlicher Sicherheit wird er dann auch dort sein. Das gibt Sicherheit. Ist aber auch ein wenig eintönig.
Jetzt, in deinem dritten Leben, nach der Berufstätigkeit, ist dieser Fahrplan plötzlich weg. Du musst morgens nicht mehr zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort sein. Du musst keinen Urlaub mehr beantragen, denn du kannst das ganze Jahr frei über deine Zeit entscheiden. Schon irgendwie paradiesische Verhältnisse! Aber sind wir auch gut darauf vorbereitet?
Der Hafenrundfahrts-Kapitän ist plötzlich dem offenen Meer ausgesetzt. Ohne feste Routen, ohne festen Fahrplan. Da müssen ganz neue Entscheidungen getroffen werden. Was will ich jetzt tun? Wann? Mit wem? An welchem Ort?
Wie reagieren die meisten Menschen?
Bei vielen kommt nach Renteneintritt erstmal das Übliche: Keller aufräumen, eventuell Garten herrichten, vielleicht ein Wohnmobil, auf jeden Fall aber Reisen. Das ganze Jahr Urlaub haben.
Ist richtig gut!
Eine Zeit lang, ein paar Wochen, ein paar Monate. Und dann kommt plötzlich so eine komische Leere.
Das alte Leben ist weg, und das neue Leben ist irgendwie noch nicht richtig gefunden. Viele wünschen sich dann die Zeit zurück, wo noch jeden Morgen klar war, wann ich aufstehen muss, was ich zu tun habe, wo ich arbeite, was ich arbeite, mit wem ich arbeite. Wo mein Leben noch eine Struktur hatte, und ich eine Identität hatte.
Was viele dann versuchen, ist, „irgendwie“ zurück zu einem Leben zu komme, das in etwa so ist wie es früher war. Mit geregelten Aufgaben und Terminen. Statt Team-Meeting oder Kundenauftrag dann vielleicht Sportverein oder Ehrenamt. Und zwar richtig, bis der Terminkalender brummt. Wir alle kennen ja das geflügelte Wort „ich bin Rentner, ich habe keine Zeit!“.
Dahinter steckt oft der Wunsch, es möge sich möglichst wenig ändern, und der Wunsch, zu den alten, bekannten Lebensverhältnissen zurückzukehren. Und sich selbst und anderen zu beweisen: Ich bin noch nicht alt – ich bin immer noch der Alte!
Also: Zurück zu dem, was bisher war. Wenn auch nicht ganz genau so, dann wenigstens so ähnlich.
Ich kenne viele, die das so machen. Und damit eine riesengroße Chance vertun.
Was wäre eine Alternative?
Eine Alternative wäre, die Chance zu nutzen, mal etwas Neues auszuprobieren. Raum zu geben für etwas, das bisher zu kurz kam. Mal andere Wege zu gehen. Suchen, ausprobieren, prüfen, und vielleicht wieder verwerfen. Auch mal eine gewisse Zeit auszuhalten, dass es keine klare Struktur und keinen klaren Plan gibt. Aber dafür viel Gelegenheit, mit Altem abzuschließen, loszulassen, einen neuen Rhythmus und neue Gewohnheiten zu finden.
Pablo Picasso wird der Satz zugeschrieben: Ich suche nicht – ich finde! Denn suchen kann man nur nach etwas, das man schon kennt. Finden kann man auch Dinge, die man bisher noch nicht kannte.
Das erfordert Unklarheiten und Uneindeutigkeiten mal eine Weile auszuhalten, auch wenn es sich zunächst einmal fremd anfühlt. Auch wenn etwas fehlt. Vielleicht auch mal Langeweile auszuhalten. Und dass du vielleicht gar nicht so genau weißt, was du eigentlich wirklich willst.
Und mal etwas Neues zu wagen. Etwas, was du noch nie gemacht hast. Oder etwas, was du immer schon mal machen wolltest. Oder etwas, was du früher mal gemacht hast, dann aber irgendwie den Faden dazu verloren hast.
Mal ausprobieren, wie es sich anfühlt, lange aufzubleiben. Oder früh aufzustehen. Oder eine Fahrradtour ohne klares Ziel zu machen. Einfach mal losfahren. Oder mal im Volkshochschulverzeichnis gucken, ob da was Interessantes dabei ist.
Was du dazu brauchst, ist Vertrauen darein, diese Ungewissheit am Ende bewältigen zu können. So wie ein Surfer, der keine feste Sicherheit hat, der aber Fähigkeiten entwickelt hat, mit Wind und Wellen so umzugehen, dass er auch Gegenwind für seine eigenen Ziele nutzen kann.
Und immer wieder aushalten, dass nicht alles gleich glatt läuft. Oder auszuhalten, dass du so auch immer mal wieder herausfindest, was du auf keinen Fall möchtest.
So kannst du dich Schritt für Schritt, über Versuch und Irrtum, immer weiter vortasten in dein neues Leben, mit neuem Rhythmus, mit neuen Tätigkeiten, vielleicht auch mit neuen Menschen.
Also: Leinen los, raus aus dem sicheren Hafen, hinein ins offene Meer! Das wird schon!
> Was könntest du einmal ausprobieren?
> Was hast du viel zu lange nicht mehr gemacht?
> Und was wolltest du immer schon einmal machen, bist aber immer wieder nicht dazu gekommen?
